Dringender Appell: keine Rückkehr zu mehr Pestiziden – wir alle haben eine ökologische und planetare Verantwortung

10. November | von Tobias Miltenberger

Poster zur Chemie in der Landwirtschaft
  • Startseite
  • >
  • Blog
  • >
  • Dringender Appell: keine Rückkehr zu mehr Pestiziden – wir alle haben eine ökologische und planetare Verantwortung

Sehr geehrter Herr Bundesminister Rainer,
sehr geehrter Herr Minister Hauk,

mit diesem Brief möchte ich mich mit großer Sorge an Sie wenden in Bezug auf die
Beratungen in der Agrarministerkonferenz in Heidelberg die heute Enden,
insbesondere mit Blick auf vereinfachte Neuzulassungen oder Notfallzulassungen
von hochtoxischen Pestiziden (z. B. Neonicotinoide oder ähnliche Nervengifte).
Gleichzeitig möchte ich den aktuellen wissenschaftlichen Befund der planetaren
Grenzen in die Diskussion einbringen — denn wir stehen nicht nur politisch,
sondern ökologisch an einem Scheideweg.

Hintergrund & aktueller Kontext

Planetare Belastungsgrenzen 2025

Quelle: Potsdam Institut für Klimafolgenforschung

  1. Planetare Grenzen – dramatische Erkenntnisse
    Am 24. September 2025 berichtete das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) im Rahmendes „Planetary Health Check 2025“, dass sieben der neun planetaren Grenzen inzwischen überschritten sind, darunter Klimawandel, Biosphären-Integrität, Landnutzungswandel, Süßwasserressourcen, biogeochemische Flüsse, Eintrag neuartiger Stoffe und erstmals auch die Grenze der Ozeanversauerung. Diese Überschreitungen bedeuten: Wir bewegen uns in Bereichen, in denen die Stabilität und Resilienz unseres Erdsystems zunehmend gefährdet ist. Das heißt: Je mehr wir lokal in sensiblen Systemen eingreifen — z.B. durch chemische Belastungen —, desto größer ist das Risiko, irreversible Kaskadeneffekte auszulösen.
  2. Historische Maßnahmen in Baden-Württemberg – „Rettet die Bienen“ & Biodiversitätsgesetz
    In Baden-Württemberg war das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ 2019 ein bedeutender Impuls, der in der Landespolitik breite Wirkung erzielte. Auf dieser Basis wurde im Juli 2020 das sogenannte Biodiversitätsstärkungsgesetz (BioDivStG) beschlossen und in Kraft gesetzt. Dieses Gesetz sieht unter anderem vor: 
    • eine Reduktion des Einsatzes chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel um 40 bis 50 Prozent bis 2030 
    • Ausbau des Ökolandbaus, Verbesserung des Biotopverbunds, Schaffung von Rückzugsflächen etc.)

    Dass gerade Baden-Württemberg mit dem Biodiversitätsstärkungsgesetz eine Vorreiterrolle eingenommen hat, war für viele von uns — auch mich persönlich — ein starkes Hoffnungssignal. 

    1. Neonicotinoide und Notfallzulassungen – ein widersprüchlicher Kurs 
      Leider zeigen sich bereits in der Vergangenheit Widersprüche zwischen den erklärten Zielen und dem praktischen Zulassungsverhalten: 
      • Die EU hat bestimmte Neonicotinoide (z. B. Thiamethoxam) 2018 verboten, da sie extrem schädlich für Insekten und Bodenorganismen sind. 
      • Dennoch hat Baden-Württemberg bereits Anträge für Notfallzulassungen gestellt und erhalten — etwa im Zuckerrübenanbau — und damit national und regional Kritik ausgelöst. 
      • Aktuell wurden für 2025 16 Notfallzulassungen gegen Schädlingsbefall durch die Schilfglasflügelzikade erteilt. Auf über 125.000 Hektar sollen diese Mittel eingesetzt werden – allein durch Abdrift könnten deutlich mehr Flächen betroffen sein. 
      • Kritiker warnen davor, dass diese Notfallzulassungen nicht als Ausnahme, sondern als schleichender Einstieg in regelmäßige Anwendung dienen könnten. 

    Die Risikodimension ist hoch: Abdrift, Belastung von Randflächen, Gewässerbelastung, negative Effekte auf Bestäuber, Bodenorganismen und Biodiversität sind real. 

Meine persönliche Betroffenheit & Erwartungen 

Heute Morgen um 06:38 Uhr hörte ich im Deutschlandfunk einen Beitrag, in dem erwähnt wurde, dass vor fünf Jahren in Baden-Württemberg das stärkste Gesetz zum Schutz der Artenvielfalt erfolgreich verabschiedet wurde — gerade durch das Volksbegehren „Rettet die Bienen“, bei dem ich einer der Initiatoren war. Es war ein Moment des Stolzes: wir hatten mit viel Engagement und gesellschaftlichem Rückhalt ein ambitioniertes Gesetz erkämpft. Der Radiobeitrag nach der Einleitung auf das Volksbegehren auch die Beratungen der aktuell laufenden Agrarministerkonferenz, die auch im „Ländle“ stattfindet, beleuchtet und das Bestreben thematisiert, wieder zu mehr Chemieeinsatz in der Landwirtschaft zurückzukehren.  

Doch nun, fünf Jahre später, ertönt in Heidelberg bei der Agrarministerkonferenz erneut die Forderung nach Zulassung hochgiftiger Pestizide. Gestern wurde mir von einem Kollegen eine großformatige Werbung aus Heidelberg zugeschickt, in der am Bahnhof plakativ mit dem Slogan geworben wird, die Landwirtschaft benötige Chemie, um uns zu ernähren. Dieses Bild und Ihr Bestreben machen mich fassungslos. 

Poster zur Chemie in der Landwirtschaft

Quelle: Marco Elischer

Ich empfinde eine tiefe Enttäuschung, weil wiederholt — gerade ausgerechnet von Seiten des Landwirtschaftsministeriums Baden-Württemberg — immer wieder Notfallzulassungen für Neonicotinoide ins Spiel gebracht werden und nun auch noch die Schwächung des Umweltbundesamtes beim Zulassungsverfahrens. Dabei war das Ziel des Biodiversitätsgesetzes ausdrücklich eine drastische Reduktion von Pestiziden. Wenn nun in der Agrarministerkonferenz wieder eine Öffnung für diese gefährlichen Substanzen diskutiert wird, droht eine Rückkehr in alte Abhängigkeiten – und ein Bruch mit dem Versprechen, dass Baden-Württemberg als Vorreiter Land und Naturschutz verbinden kann. 

Für mich — und ich denke für viele Bürgerinnen und Bürger — ist klar: Es kann nicht sein, dass politisch erklärter Wille (Artenvielfalt, Pestizidreduzierung) angesichts kurzfristiger Interessen auf dem Altar einer vermeintlichen Effizienz verkauft wird. 

Appell an Sie — Handlungserwartungen 

In Anbetracht dieser Dringlichkeit bitte ich Sie eindringlich: 

  1. Keine Zulassung oder Notfallzulassung von hochtoxischen Nervengiften auf Bundes- oder Landesebene 
    Jede Entscheidung, die den Weg zu mehr chemischem Einsatz ebnet, steht im Widerspruch zu den Verpflichtungen aus Biodiversitätsschutz und den planetaren Grenzen. 
  2. Verbindlichkeit und Kontrolle der Reduktionsziele sicherstellen 
    Die Reduktionsziele im Biodiversitätsgesetz dürfen nicht zur deklamatorischen Dekoration verkommen — sie müssen in realen Messzahlen und verbindlichen Zwischenstufen ausgestaltet, kontrolliert und sanktioniert werden. 
  3. Förderung und Unterstützung von pestizidarmen und ökologischen Anbausystemen intensivieren 
    Wir brauchen eine stärkere Förderung agrarökologischer Verfahren, Forschung in Alternativen zur chemischen Schädlingsbekämpfung, flankierende Unterstützungsmechanismen für Landwirtinnen und Landwirte, die umsteigen. 
  4. Gesamtsystemdenken verankern – planetare Grenzen sind kein akademisches Konzept 
    Die Überschreitung der planetaren Grenzen zeigt uns: Wir müssen Politiken so gestalten, dass sie nicht nur lokal, sondern global wirksam und stabil sind. Landwirtschafts- und Umweltpolitik dürfen nicht isoliert gedacht werden. Jede Entscheidung wirkt in multiple ökologische Kreisläufe. 
  5. Transparenz, Beteiligung und Verantwortung stärken 
    Die Öffentlichkeit, Landwirtinnen und Landwirte sowie Umweltverbände müssen frühzeitig eingebunden werden. Entscheidungen müssen nachvollziehbar, wissenschaftsbasiert und rechtlich belastbar sein.

Ich setze Hoffnung in Ihre Verantwortung und Ihre Gestaltungsfreiheit. Gerade in einer Zeit, in der laut PIK sieben von neun planetaren Grenzen bereits überschritten sind, müssen wir in Deutschland beweisen, dass eine intakte Landwirtschaft und ein stabiler Naturhaushalt kein Widerspruch sind — sondern zusammen gedacht werden müssen.

Ich stehe selbstverständlich zur Verfügung, um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen, Argumente zu liefern, wissenschaftliche Quellen zu benennen oder auch gemeinsam alternative Wege zu prüfen. 

Mit besorgten Grüßen 

Tobias Miltenberger

Geschrieben hat

Tobias Miltenberger